Projekt: „Genetik und Gewebehistologie zervikaler Dissektionen“

Hintergrund

Die zweithäufigste Ursache für einen Schlaganfall bei jungen Erwachsenen sind so genannte spontane Dissektionen. Jedes Jahr erleiden etwa 10 bis 20 Prozent der Schlaganfallpatienten unter 45 Jahren in Deutschland einen derartigen Schlaganfall, die meisten von ihnen werden aus völliger Gesundheit getroffen. Dissektionen sind Einrisse der inneren Arterienwand, die direkt oder durch Thrombenbildung zu einem Gefäßverschluss führen können. Sind hirnversorgende Arterien davon betroffen, ist häufig ein Hirninfarkt die Folge. Verschiedene Faktoren erhöhen zwar das Risiko von Dissektionen der Halsgefäße, wie etwa mechanische Verletzungen durch Schleudertraumen oder chiropraktisches Einrenken, Bluthochdruck oder Infektionen der oberen Atemwege. Diese relativ unspezifischen Risikofaktoren können jedoch keine vollständige Erklärung für viele der auftretenden Dissektionen bieten (1, 2).

Ziele

Anhand von elektronenmikroskopischen Untersuchungen an Hautproben von Dissektions- und Kontrollpatienten suchen die Forscher nach strukturellen Auffälligkeiten im Bindegewebe. Gleichzeitig nehmen Molekularbiologen jene Gene näher unter die Lupe, deren Produkte am Aufbau des Bindegewebes beteiligt sind. Dabei ist es wichtig, dass die Wissenschaftler Proben möglichst vieler Patienten untersuchen. Ermöglicht wird dies durch die interdisziplinäre Kooperation der Forschergruppen im Kompetenznetz. Im Projekt arbeiten unter anderem Spezialisten der Ultrastrukturforschung, Neurologen und Genetiker der Universitäten Heidelberg und Münster sowie des Klinikums Minden zusammen.

Vorgehensweise

Welches Gen erhöht, wenn es verändert wird, das Schlaganfall-Risiko? Und wie stark erhöht es das Risiko? Um diese Fragen zu beantworten, hat das Kompetenznetz-Projekt in zwei Regionen Deutschlands (Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern) ein Netzwerk mit verschiedenen Krankenhäusern, in denen Schlaganfallpatienten behandelt werden, aufgebaut. Genetische Proben von insgesamt bisher etwa 2500 Schlaganfallpatienten und 2500 gesunden Menschen konnte die Forschergruppe auf diese Weise untersuchen und miteinander vergleichen. Das besondere Interesse der Forscher gilt dabei Veränderungen in jenen Genen, die eine bedeutende Rolle in bestimmten Stoffelwechselwegen spielen. Störungen in diesen Stoffwechselwegen stellen Risikofaktoren für einen Schlaganfall dar.

Ein Teil der Genproben wurde in die zentrale genetische Daten- und Materialbank des Max-Delbrück-Zentrums in Berlin Buch eingespeist, damit sie auch den anderen genetischen Projekten des Kompetenznetzes zu Verfügung stehen.

Ergebnisse

Histologische Schnitte von dissektierten Arterien zeigen massive degenerative Veränderungen der Tunica media, der Mittelschicht der Arterienwand. Diese Veränderungen werden meist als mediolytische Arteriopathie beschrieben (3). Die Arteria carotis gehört zu den elastischen Arterien. Die Mittelschicht dieser Arterienwände zeigt normalerweise eine regelmäßige Struktur, in der sich Schichten aus elastischen Fasern und glatten Muskelzellen abwechseln. Bei Patienten mit Dissektionen ist diese regelmäßige Struktur jedoch immer gestört (Abb. 1): Es liegt deutlich weniger und stark fragmentiertes elastisches Material vor. Die Zahl der glatten Muskelzellen ist verringert, wobei die meisten der Zellen kaum noch Myofibrillen aufweisen und metabolisch inaktiv erscheinen. Diese Veränderungen sind vermutlich die Spätfolgen einer bereits sehr lang andauernden Gefäßerkrankung. Auch in einigen anderen untersuchten Gefäßen (Aorta, Vertebralisarterie, Nierenarterie) fand die Arbeitsgruppe pathologische Veränderungen.

Abb. 1: Lichtmikroskopische Aufnahmen von Dünnschnitten der Karotis-Arterienwand. Oben: Arteria carotis interna eines Dissektionspatienten. Vor allem die Tunica media (weißer Pfeil) ist desorganisiert. Unten: Arteria carotis interna einer gesunden Kontrollperson.

Bei den meisten Patienten liegen jedoch nicht nur in den Gefäßen, sondern auch im Bindegewebe der Haut morphologische Unregelmäßigkeiten vor (4). Die Veränderungen in den Arterien sind zwar massiv und eindeutig pathologisch, aber wenig spezifisch – sie sagen über die primäre Ursache der Erkrankung wenig aus. Die Hautbefunde – obwohl sie auf den ersten Blick eher marginal erscheinen –, sind dagegen umso aufschlussreicher: Sie erinnern an Befunde von Patienten mit Ehlers-Danlos Syndrom, einer erblichen Bindegewebserkrankung: In den Hautbiopsien der Dissektionspatienten fanden die Forscherteams leichte Veränderungen in den elastischen Fasern und in den Kollagenfibrillen (Abb. 2). Die Bindegewebsschwäche in der Haut legt demnach einen generellen Bindegewebsdefekt nahe, der sich auch in den Arterienwänden wieder findet. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass der Hautbefund eine Folge der Gefäßerkrankung ist, denn ähnliche Hautbefunde wurden sogar bei gesunden Blutsverwandten von Patienten erhoben. In der Bindegewebsveränderung wird einer der Risikofaktoren für Dissektionen sichtbar.

Abb. 2: Elektronenmikroskopische Aufnahme von der Haut eines Dissektionspatienten. Die Elastika ist „mottenfraß“-ähnlich verändert und zeigt Minicalzifizierungen (weißer Pfeil)

Die Ähnlichkeit der Hautbefunde mit den elektronenmikroskopischen Befunden bei Patienten mit Ehlers-Danlos Syndrom hat die Arbeitsgruppe zu molekulargenetischen Untersuchungen angeregt. Mutationen in Genen, die an der Synthese der Kollagenfibrillen beteiligt sind, wurden bei Patienten mit Ehlers-Danlos Syndrom gefunden, jedoch nicht bei Patienten mit Dissektionen. Die Analyse von einigen größeren Familien mit hereditären Bindegewebsveränderungen hat allerdings dazu geführt, einen Genort auf Chromosom 15 zu identifizieren, der vermutlich bei der Genese der Bindegewebsstörung eine Rolle spielt.

Die Texturveränderung des Bindegewebes mag ein prädisponierender Faktor für zervikale Dissektionen sein – sie ist jedoch mit Sicherheit nicht der einzige. Schon vor etwa zehn Jahren wurde gezeigt, dass Patienten häufig, kurz bevor die Dissektion auftrat, an einer infektiösen Atemwegserkrankung litten. Dadurch entstand die Vermutung, dass genetische Faktoren, die einen verstärkenden Einfluss auf die Entzündungsreaktion haben, möglicherweise auch das Risiko für Gefäßdissektionen erhöhen. Einige der neuesten Ergebnisse scheinen diese Vermutung zu bestätigen (5, 6). Alle bisherigen Befunde deuten darauf hin, dass zervikale Dissektionen komplexe Erkrankungen mit langjähriger Vorgeschichte sind, die von verschiedenen Risikofaktoren begünstigt werden (7).

Literatur

  1. Rubinstein SM, Peerdeman SM, van Tulder MW, Riphagen I, Haldeman S. A Systematic Review of the Risk Factors for Cervical Artery Dissection. Stroke 2005; 36: 1575-1580.
  2. Brandt T, Grond-Ginsbach C. Spontaneous Cervical Artery Dissection – from risk factors towards pathogenesis. Stroke 2002; 33: 657-8.
  3. Brandt T, Morcher M, Hausser I. Association of cervical artery dissection with connective tissue abnormalities in skin and arteries. In: Baumgartner RW, Bogousslavsky J, Caso V, Paciaroni M. Handbook of Cerebral Artery Dissection. Basel, S Karger AG, 2005: 16-29.
  4. Hausser I, Müller U, Engelter S, Lyrer P, Pezzini A, Padovani A, Moormann B, Busse O, Weber R, Brandt T, Grond-Ginsbach C. Different types of connective tissue alterations associated with cervical artery dissections. Acta Neuropathol. 2004; 107: 509-14.
  5. Genius J, Dong-Si T, Grau AJ, Lichy C. Postacute C-reactive protein levels are elevated in cervical artery dissection. Stroke. 2005; 36: 42-4.
  6. Longoni M, Grond-Ginsbach C, Grau AJ, Genius J, Debette S, Schwaninger M, Ferrarese C, Lichy C. ICAM-1 E469K polymorphism is a risk factor for spontaneous cervical artery dissection. Neurology 2006; in press.
  7. Grond-Ginsbach C, Debette S, Pezzini A. Genetic approaches in the study of risk factors for cervical artery dissection. In: Baumgartner RW, Bogousslavsky J, Caso V, Paciaroni M. Handbook of Cerebral Artery Dissection. Basel, S Karger AG, 2005, 30-43.

Projektleiter

brandt

PD Dr. med. Tobias Brandt
Schmiederkliniken
Speyrerhof 3
69117 Heidelberg
Tel.: +49-6221/6540-221
Fax: +49-6221/6540-560
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